Bruder Augustin und die Zukunft Taiwans

Über 20 Mal schon war der SRF-Nordeuropa-Korrespondent und Demokratie-Experte Bruno Kaufmann in Taiwan. In einem Podcast im Rahmen der SRF-Rubrik «Kontext» über «Asiens beste Demokratie» porträtiert er den SMB-Bruder Augustin Büchel und lässt ihn ausgiebig zu Wort kommen.

04.06.2024

Autor/Quelle: SRF-Podcast Kontext, von Bruno Kaufmann / Zusammenstellung Peter Leumann

Am Bahnhof in Taitung – im Südosten von Taiwan, das flächenmässig etwas kleiner ist als die Schweiz, aber mit 23 Millionen zweieinhalb Mal so viele Einwohner hat – holt den Journalisten ein «sehr fitter und dynamischer 88-Jähriger, gekleidet in T-Shirt, Jeans und Sandalen» ab: Bruder Augustin Büchel, der seit über 60 Jahren hier lebt und wirkt.

Auf die Frage nach seiner Herkunft im St. Galler Rheintal erzählt Augustin von seiner Jugend: Er wurde 1936 in eine Bauernfamilie hineingeboren, war der Zweitälteste und hatte sechs Geschwister. Und die Familie hatte nicht viel. Da sein Vater früh verstorben war und sein älterer Bruder von zu Hause wegzog, war es dann an Augustin, Verantwortung zu übernehmen. Er musste früh erwachsen werden und machte eine KV-Lehre in der Gemeinde, in der er lebte. Dort aber sah er nicht seine Zukunft. Er wollte weg, hinaus in die grosse weite Welt. Und die Mission war dann sein Weg, rauszukommen aus dem Rheintal.

SRF-Korrespondent Bruno Kaufmann (links) mit Augustin Büchel SMB auf einem Aussichtspunkt in Taitung in Taiwan.

Vom Rheintal nach Taiwan

Wie wurde er denn zu Bruder Augustin? «Religion war bei uns in der Familie sehr wichtig. Es gab ein Klima von Religiosität, vor allem von der Mutter her. Und Kirche war alles. Ich musste schon sehr früh als Altardiener dienen … Wir hatten auch viele verschiedene Schriften über Mission, das hat mich sehr interessiert, und da habe ich gedacht, da möchte ich auch helfen gehen.» Und so ging er mit 23 Jahren zur Missionsgesellschaft Bethlehem in Immensee.

Nach einigen Jahren Arbeit im Verlag und in der Finanzverwaltung in Immensee kam der Ruf aus dem fernen Taiwan, das Missionshaus in Taitung zu verwalten und auch weiter aufzubauen. Er hatte eine Woche Zeit, um zu überlegen, und sagte zu. Als er nach einer sechswöchigen Schiffsreise in Taiwan ankam, verstand er zunächst einmal gar nichts und musste in die Chinesisch-Sprachschule. «Am Jahresende gab es ein Examen. Dann habe ich gesagt, wozu Examen? Was ich gelernt habe, das habe ich, und was ich nicht gelernt habe, da hilft das Examen auch nichts.»

Und wie war das für ihn am Anfang, so weit weg von zu Hause in einer ganz fremden Kultur? Alles war neu, alles war unbekannt, alles war fremd. Schon allein das Essen machte Bruder Augustin grosse Mühe, weil die Hygiene sehr mangelhaft war und er immer wieder Würmer hatte. Taiwan war Anfang der 1960er-Jahre ein sehr armes und vernachlässigtes Land. Es war ein Spielball der Grossmächte, und es herrschte eine Militärdiktatur unter General Chiang Kai-shek. Dieser hatte zuvor in China den Bürgerkrieg gegen Mao Zedong verloren und war dann mit seiner Armee, zwei Millionen Menschen, nach Taiwan geflohen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war Taiwan eine japanische Kolonie, zuvor stand es unter portugiesischem Einfluss.

Im Südosten und in den Bergen, wo die Missionsgesellschaft Bethlehem und auch Bruder Augustin tätig wurden, da lebten und leben auch heute noch viele indigene Völker. Sie haben Wurzeln im pazifischen Raum und eine eigene soziale Ordnung. Die Kolonialmächte und am Schluss auch die Militärdiktatur haben die Kultur der Indigenen unterdrückt und auch die Gemeinschaft eigentlich auseinandergebracht. Die Missionare halfen dann mit ihrer Pfarreiarbeit beim Aufbau einer sozialen Struktur.

Tatsächlich sind heute 80 % der Indigenen in Taiwan Christinnen und Christen, während es in der Gesamtgesellschaft des Landes gerade einmal 2 % sind. Die Mission in Taitung bot aber nicht nur Gemeinschaft, sondern auch ganz praktische Hilfe. Anfänglich verteilte sie Hilfsgüter, die die Amerikaner den Kirchen zur Verfügung stellten. Aber mit diesen Hilfsgütern war es natürlich nicht wirklich getan auf die Dauer. Die Missionsgesellschaft begann deshalb sehr bald, ein Spital und eine Handwerkerschule aufzubauen.

Augustin Büchel SMB in seinem unglaublich vielfältigen Garten. Der SMB-Missionar hat einen grünen Daumen, ein feines Gespür für Pflanzen und sorgt für das Gedeihen von Natur im Regionalhaus Taitung. Im Bild eine Orchidee.

Beim Besuch bei den Bunun im Hochgebirge Taiwans liess sich Bruno Kaufmann bestätigen, dass die Missionsgesellschaft wichtig war beim Aufbau dieser indigenen Gemeinschaften, weil sie in der Kirche erstmals wieder ihre eigene Sprache sprechen konnten. Das war auch wichtig für die Selbstbestimmung und die Identität. Und das wiederum führte dazu, dass sie auch im demokratischen Taiwan wirklich ihre Rechte einfordern konnten. Da geht es um Emanzipation. Dass die Indigenen zu ihren Rechten kamen, das war eine Inspiration auch für die Demokratiebewegung in Taiwan.

Im nächsten Teil des Podcasts erzählt Bruno Kaufmann, wie es Taiwan in erstaunlich kurzer Zeit schaffte, sich von einer Diktatur in eine vorbildliche Demokratie mit einer blühenden Wirtschaft zu verwandeln. Dabei interviewt er auch Schülerinnen und Schüler der San Min Junior High School in Taipei, die Chefredaktorin des Taiwan Fact Checking Center, Eve Chiu, und Claudia Fontana Tobiassen, Direktorin des Swiss Trade Office in Taiwan. Dass es heute so gute wirtschaftliche, aber auch gesellschaftliche Beziehungen zur Schweiz gebe, dafür habe die Bethlehem-Mission sicher auch die Türen mit aufgemacht. Sie sei in Taiwan in der Öffentlichkeit bekannt und setze sich seit den 1950er-Jahren für das Gemeinwohl der Bevölkerung an der Ostküste ein. Und dann sei auch die therapeutische Fussreflexzonenmassage von Pfarrer Josef Eugster in ganz Taiwan verbreitet und bekannt.

Die Fussreflexzonenmassage von Josef Eugster SMB ist weit über Taiwan hinaus bekannt.

Kindheitstraum und Zukunftswunsch

War Rückkehr in die Schweiz für Bruder Augustin je ein Thema? Nein, der 88-Jährige ist seit acht Jahren auch taiwanesischer Bürger, und das ist ziemlich aussergewöhnlich. Den taiwanesischen Pass gibt es für Ausländer nur bei ganz besonderen Verdiensten. Er ist deshalb jetzt einer von ganz wenigen Doppelbürgern. Sein taiwanesischer Pass hat die Nummer 105.

Dass Taiwan zu seiner Heimat geworden ist, hat auch mit der Verwirklichung eines anderen Kindheitstraumes zu tun, von dem Augustin erzählte: «Im Seminar und später auch hier in Taiwan habe ich immer wieder Gelegenheit bekommen, mein Hobby auszuleben, was das Pflanzen von Blumen oder Bäumen ist.» Dies zeigt sich in seinem unglaublich vielfältigen Garten, in dem es alles gibt, was man sich vorstellen oder eben auch nicht vorstellen kann.

Bruder Augustin hat jetzt noch zwei grosse Anliegen. Er möchte das Missionshaus in taiwanesische Hände übergeben, und zwar als eine Art von ökumenischem Begegnungszentrum. Und der zweite, vielleicht noch grössere Wunsch ist, dass Taiwan frei und unabhängig bleibt: «Die Leute, mit denen ich in Kontakt bin, wollen nichts wissen von einer Vereinigung mit China. Sie haben gesehen, was in Hongkong passiert ist.» Und das haben die Menschen in Taiwan natürlich sehr genau mitbekommen.

Ist Augustin denn optimistisch, ob es gelingt, die Freiheit zu behalten? «Die Frage, ob wir von China überrannt werden, schwebt natürlich immer in der Luft. Da gibt es hundert Theorien, und niemand kann bestimmt sagen, ob wir wirklich frei bleiben werden, auch in Zukunft. Aber in der Bevölkerung spürt man doch eine Zuversicht, und sie würde sich bei einem Angriff auch wehren.»

Ob Bruder Augustin zufrieden ist mit seinem Lebenswerk? Schliesslich ist er als junger Mann losgezogen mit dem Ziel, den Menschen zu helfen. Seine pragmatische Antwort: «Ja, es gibt natürlich sehr viele Aufgaben, die man machen könnte, machen muss. Aber alles kann man nicht zu bester Zufriedenheit. Wir sind alle Menschen, wollen etwas bewirken. Und wir haben auch etwas bewirkt.»

Unter diesem Link den SRF-Podcast Kontext von Bruno Kaufmann hören.