Anlässlich einer Pilgerreise im Jahr 2023 schildert Giancarlo Collet das Leben und die Bedeutung dieses Charismatikers.
Autor: Giancarlo Collet
Die diesjährige Pilgerwanderung führt uns zu verschiedenen evangelischen Heideklöstern, die auf eine lange, teilweise über 800 Jahre alte Tradition zurückblicken und noch aus vorreformatorischer Zeit stammen. Dies zu erwähnen, ist deshalb nicht unwichtig, weil der Reformator Martin Luther als Mönch des Augustinerordens die monastische Tradition selbst kannte, bevor er sich gegen jegliches Klosterleben aussprach, weil es nicht biblisch sei, und Katharina von Bora heiratete. Im Gefolge der Reformation kam es zur Auflösung vieler Klöster. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass wir uns hier in einem belebten Frauenkloster (Klosterkirche von Medingen) zusammenfinden können. Roger Schutz, von dem im Folgenden die Rede ist, gehört zu jenen Persönlichkeiten, die die monastische Tradition innerhalb der eigenen evangelischen Kirche neu entdeckt und stark gemacht haben und sie zugleich mit der von Jesus geforderten Einheit der Christen (vgl. Joh 17, 21) zu leben suchten.
Frère Roger Schutz, Prior der Communauté von Taizé, am Ostersonntag, 31.März 2002, in seinem Zimmer in Taizé. ©KNA-Bild
I. Jugend und Studienzeit
Roger Schutz, geboren am 12. Mai 1915, entstammte einer französisch sprechenden Grossfamilie aus der Nähe von Neuchâtel in der Westschweiz. Sein Vater war ein streng reformierter calvinistischer Gemeindepfarrer. Die Mutter kam aus einem bürgerlichen Pariser Haus und schenkte neun Kindern das Leben. Roger war unter sieben Schwestern und seinem neun Jahre älteren Bruder der Jüngste. Trotz den bescheidenen Verhältnissen, in denen die Familie Schutz im kleinen Juradorf Provence lebte, verbrachte Roger in einem offenen Elternhaus eine schöne Kinderzeit. Er hing an seinem Heimatdorf, wo er geboren und aufgewachsen war, und fand Freunde unter den Bauernkindern. Dennoch spürte Roger gleichzeitig, dass er aus einem anderen Milieu stammte. Denn in seinem Elternhaus wurde im Unterschied zu den anderen viel erzählt, gelesen (vor allem in und aus der Bibel) und musiziert. Als Grundlage seiner moralischen (puritanischen) Erziehung galten die Zehn Gebote, die Roger sehr bald auswendig kannte, wobei ein falsch verstandener Satz schwerwiegende Folgen hatte. Denn anstelle von «Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst» verstand er «damit sie lange leben». Daraus zog Roger den folgenschweren Schluss, dass er direkt für das Leben und den Tod seiner Eltern verantwortlich sei. Dieses übermässige Verantwortungsgefühl lastete schon in jungen Jahren auf ihm und zwang ihn zu grosser Selbstbeherrschung, zu einer erstaunlichen Fügsamkeit und Unterwürfigkeit.
Die Jugendzeit, von der Roger nur selten sprach, muss für ihn schmerzhaft gewesen sein. Glaubens- und Selbstzweifel und damit verbundene Minderwertigkeitsgefühle kamen in ihm auf. So sagte er von sich: «Mein Glaube, das kann ich sagen, wurde in meiner Jugend erschüttert. Ich zweifelte zwar nicht daran, dass es Gott gibt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Gemeinschaft mit ihm möglich wäre. Ich wollte aufrichtig sein und wagte manchmal nicht einmal zu beten. Ich dachte, dazu müsse man Gott kennen.» Dazu kam der Ortswechsel von dem eher beschaulichen Provence in die Nähe von Lausanne, den er wie eine «Vertreibung aus dem Paradies» empfand. Seine lückenhafte Schulbildung – aufgrund des Umstandes, dass der Vater seinen Sohn in Eigenregie zu Hause unterrichten wollte – bereitete den Eltern Sorgen, was dazu führte, dass sie Roger auf eine 20 Kilometer entfernte weiterführende Schule schickten. Um ihm das tägliche Pendeln zwischen dem Zuhause und der Schule zu ersparen, suchten die Eltern eine vertrauenswürdige Familie vor Ort, die ihn über Mittag versorgte, und fanden sie in der jungen Witwe Madame Bioley-Delacoste, selbst Mutter mehrerer Kinder und in finanziellen Schwierigkeiten steckend. Allerdings zögerten die Eltern anfänglich noch, denn Madame Bioley war eine fromme Katholikin, die jeden Tag zur Kommunion ging. Die Freundlichkeit jedoch, mit der diese Frau die Kinder versorgte, liess die konfessionellen Vorbehalte zurücktreten. Bei Madame Bioley lernte Roger den Katholizismus von innen heraus kennen. Er erlebte, wie diese Frau handelte und wie sie aus dem Gebet lebte. Er stellte fest, dass sie dieselbe Grosszügigkeit und Hinwendung zu den Armen praktizierte, die er aus seinem Elternhaus kannte. Madame Bioley schenkte ihrem jungen Kostgänger viel Aufmerksamkeit, und er fasste Vertrauen zu ihr. Mit ihr sprach er über Fragen und Zweifel. Sie antwortete ihm aus der Tiefe ihres eigenen Glaubens, mit viel Einfühlungsvermögen und grossem Respekt: Sie versuchte nicht, ihn zu irgendetwas zu bekehren. Roger merkte nach und nach, wie wenig katholische und evangelische Christen voneinander wissen. Die Frage der Konfessionszugehörigkeit verlor für ihn zunehmend an Bedeutung.
Diese sich bei ihm früh abzeichnende Offenheit eines streng reformierten Christen gegenüber dem Katholizismus war in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts alles andere als selbstverständlich. Dasselbe galt umgekehrt genauso! Man war mehr an klarer Abgrenzung voneinander als an gegenseitiger Verständigung interessiert. Anders scheint es bei der Familie Schutz gewesen zu sein, auch wenn dies nicht unter dem Titel Ökumene geschah. Schon Rogers Grossmutter mütterlicherseits, an der er sehr hing, war anders «gestrickt». Sie lebte zu Beginn des Ersten Weltkrieges verwitwet unweit des Kampfgebietes in Nordfrankreich. Zwei kleinere Bomben schlugen in ihr Grundstück ein: Die eine riss einen Krater in den Garten, die andere steckte als Blindgänger zwischen den Büchern ihres verstorbenen Mannes, eines evangelischen Pastors. Das hielt sie nicht davon ab, ihr beschädigtes Haus mit ihrer Schwiegertochter und einem Enkelkind – die drei Söhne standen an der Front – für alte Leute, Kinder und hochschwangere Frauen, die auf der Flucht vor der Front waren, offen zu halten, bis sie mit dem letzten Zug im Viehwaggon nach Paris gelangten.
Ein grosses Anliegen der Grossmutter, die selber aus einer alten evangelischen Familie stammte und vom Geist der Versöhnung durchdrungen in die katholische Kirche ging, war: Nie mehr sollte jemand das durchmachen müssen, was sie als Grossmutter erleben musste. Die ohnehin getrennten Christen töteten einander in Europa; wenigstens sie sollten sich versöhnen und so einen neuen Krieg zu verhindern suchen. Nach dem Vorbild seiner Grossmutter – sagte Roger von sich selbst – habe er seine Identität als Christ darin gefunden, dass er in sich den Glauben seiner evangelisch-reformierten Herkunft mit dem Glauben der katholischen Kirche versöhnt habe, ohne die Gemeinschaft mit irgendjemandem zu brechen. Er fühlte sich zur Versöhnung der Kirchen aufgerufen und war der festen Überzeugung, dass Christen zur Versöhnung der Menschheit beitragen können – jedoch nur unter der Bedingung, dass sie sich vereinen und nicht getrennt bleiben. (Übrigens traf er auch seinen eigenen Vater gelegentlich still betend in einer katholischen Kirche an.)
Im Frühjahr 1931 machten sich bei Roger Anzeichen einer Lungentuberkulose bemerkbar, mit der er sich im Hause seiner Wirtsfrau Bioley angesteckt hatte. Entgegen dem Rat der Ärzte entschieden sich die Eltern, ihren sterbenskranken Sohn zu Hause zu pflegen, was für den inzwischen 16-jährigen Jungen nicht leicht war. Es war dies für ihn nicht nur eine Zeit tiefer innerer Unruhe und Einsamkeit, sondern auch die Zeit, in der er sich mit seiner beruflichen Zukunft beschäftigte und den Wunsch äusserte, Schriftsteller zu werden, was aber seinem autoritären Vater missfiel, der dies kategorisch ablehnte. Nach Meinung des Vaters war Schriftstellerei nämlich kein Beruf, sondern pure Geldverschwendung. Trotzdem nahm Roger, der seine Gedanken in Tagebüchern schriftlich festzuhalten begann, Briefkontakt zu dem damals vor allem in evangelischen Kreisen viel gelesenen französischen Schriftsteller André Gide auf, der ihm tatsächlich antwortete. Allerdings war Gide derselben Ansicht wie sein Vater: Was er von Roger zu lesen vorgelegt bekomme, es handelte sich um das Manuskript des Essays «Evolution d’une jeunesse puritaine» (Entwicklung einer puritanischen Jugend), sei nicht originell! Für den Jungen auf der Suche nach seiner beruflichen Zukunft nicht gerade ermutigend.
Treffen von Frère Roger mit Mutter Teresa in einem Waisenhaus in Kalkutta im Oktober 1976. ©KNA-Bild
In der Familie herrschte zu der Zeit eine angespannte Stimmung: Die Eltern hatten unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft ihrer Kinder, die in der Regel nicht in die Gespräche einbezogen wurden, und ebenso waren sie politisch anderer Meinung. Häufiges Schweigen prägte die Familie, eine Atmosphäre, die Roger später als «permanentes Drama» beschrieb. Der Vater hätte es am liebsten gesehen, wenn alle seine Töchter Diakonissen geworden wären und sein jüngster Sohn Pfarrer. Unregelmässiger Schulbesuch, kein Abitur, gesundheitlich immer noch angeschlagen – all dies hielt jedoch Roger nicht davon ab, an ein Hochschulstudium zu denken. Er könnte eine Aufnahmeprüfung für Bewerber ohne Abitur machen. Aber welches Fach sollte er wählen? Für seinen Vater war die Sache klar: Ein Theologiestudium eröffnet alle Möglichkeiten. So schrieb der inzwischen 20-jährige Roger in einem Brief an André Gide: Der Vater «lässt mir keine ruhige Minute und will mir mit Gewalt dieses Theologiestudium aufzwingen». Schliesslich beugte sich Roger dem Willen des Vaters. Nachdem er beim ersten Versuch bei den Aufnahmeprüfungen durchgefallen war, bestand er im zweiten Versuch. Roger wurde stark, nahm fortan seine Ausbildung in die eigenen Hände und begann damit zugleich, sich von der elterlichen Abhängigkeit zu lösen.
1936 startete er an der kleinen, aber geistig offenen Freikirchlichen Hochschule in Lausanne mit dem Theologiestudium und nahm nebenbei Gesangsunterricht, was ihm grosse Freude bereitete. Mit dem Verstand war Roger bei der Theologie, mit dem Herzen jedoch bei der Literatur, wobei er später mehrmals gestand: «Ich habe die Theologie nie gemocht.» Hinzu kam, dass er auch kein Amt in der Seelsorge anstrebte. Dies führte zu einem wachsenden inneren Zwiespalt und zu einer grossen Anspannung, die im Sommer 1937 ihren Höhepunkt erreichte. Roger stellte das Theologiestudium radikal in Frage und war bereit, seinem Vater entgegenzutreten. Da geschah Folgendes: Seine schwangere Schwester Lily war todkrank in das elterliche Haus gebracht worden, und Roger überfiel grosse Angst; er hätte von Herzen gerne gebetet, doch glaubte er schon lange wegen tiefsitzender Schuldgefühle, dazu nicht mehr in der Lage und unwürdig zu sein. Beim Griff zur Bibel stiess er auf Psalm 27, Vers 8: «Mein Herz denkt an dein Wort: ‹Sucht mein Angesicht!› Dein Angesicht, Herr, will ich suchen.» Ergriffen und befreit von diesem Psalmwort, begann Roger erneut zu beten. Dass seine Schwester sich von ihrer Krankheit erholte, ein gesundes Kind zur Welt brachte und die Geburt in der Familie gefeiert werden konnte, bedeutete für Roger, dass Gott sein Gebet erhört hatte. Damit war ein innerer Damm gebrochen. Diese Erfahrung bestärkte ihn in seiner neu gewonnenen Überzeugung, dass der Herr auch ihm in seiner Not beisteht. Es war dieses Schlüsselerlebnis, das Roger einen theologischen Weg eröffnete, auch wenn er noch nicht wusste, wohin er ihn führen sollte. Jedenfalls begann er von da an, sich ungeteilten Herzens der Theologie zu widmen, wobei ihn die Geschichte des Mönchtums besonders interessierte. Roger gründete eine offene Gemeinschaft für Studenten und Angehörige akademischer Berufe und übernahm den Vorsitz der christlichen Studentenbewegung (Associations Chrétiennes d’Etudiants, ACE). Darüber hinaus war er für die Studentenzeitung «Unter den Zedern» verantwortlich, die ihm zugleich die Möglichkeit bot, verschiedene Artikel zu veröffentlichen und damit seiner literarischen Neigung zu folgen.
1939 immatrikulierte sich Roger in Strassburg, wo er in einer Gemeinschaft im Strassburger Stift, einer Art evangelischem Seminar, lebte. Jeden Morgen wurde unter der Leitung des Direktors gemeinsam gebetet. In einer eher lutherisch geprägten Atmosphäre lebten im Stift hauptsächlich junge Ausländer. Im selben Jahr nahm er mit zahlreichen jungen Christen aus der ganzen Welt an der Weltjugendkonferenz in Amsterdam (24. Juli bis 2. August 1939) teil. Die kirchliche und ökumenische Dynamik, die sich dort entwickelte, veranlasste Roger, an weiteren internationalen Konferenzen teilzunehmen und Englisch zu lernen. Die Begegnungen an der Universität von Strassburg und das Jugendtreffen in Amsterdam haben Rogers Horizont erweitert und ihn in seinem Wunsch bestärkt, sich in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen. Die drei ersten Jahre seiner Ausbildung in Lausanne hatten ihn stark verändert. Er wurde innerlich freier und war nun in der Lage, seine Berufung klar in den Blick zu nehmen. Freundschaften waren entstanden. Roger hatte sich zu einer Führungspersönlichkeit entwickelt, die darauf wartete, den nächsten Schritt zu tun. Noch mitten in der Vorbereitung seiner Abschlussarbeit zum Thema «Das Mönchsideal bis zu Benedikt und seine Übereinstimmung mit dem Evangelium» begann Roger nach einem Haus zu suchen, um in Einkehrtagen mit Freunden und Gästen zusammen über den Glauben sprechen und gemeinsam beten zu können. Ihm war nicht nur das Leben in Gemeinschaft wichtig, sondern genauso die Glaubwürdigkeit dessen, was Christen glaubend bekennen, wozu ein grosses soziales Engagement gehört. Worte nämlich, die nicht gelebt werden, bleiben leer – das war und blieb die feste Überzeugung von Roger. Vom Evangelium inspiriert, suchte er die Einfachheit und die Güte des Herzens im eigenen Leben konkret umzusetzen.
Roger Schutz, Prior der Gemeinschaft von Taizé, während des Jugendtreffens in Taizé 1975. ©KNA-Bild
II. Zeit des Krieges und die Anfänge der Communauté
Es war die Zeit, in der in Europa erneut Krieg herrschte; auch im Land seiner Mutter, in Frankreich, herrschte Krieg. Frankreichs Norden war von deutschen Truppen besetzt worden, während im noch «freien Süden» des Landes die Regierung von Marschall Pétain ein autoritäres System errichtete, das mit Hitlers Deutschland kollaborierte. Zahlreiche Juden und politisch Verfolgte suchten aus dem anderen Teil des Landes in die unbesetzte Region zu gelangen, in der Hoffnung, auf ihrer Flucht vor den Nazis hier kurz untertauchen und dann über versteckte Pfade in die Schweiz flüchten zu können. Für Roger war klar: Diesen Menschen, die alles verloren hatten und hungerten, musste geholfen werden. Er beschaffte sich ein Visum für Frankreich und fuhr mit dem Fahrrad über die Schweizer Grenze. Nach einigen Zwischenstationen stiess er auf das völlig heruntergekommene, fast entvölkerte Dorf Taizé im Burgund, das nur noch von alten und einsamen Menschen bewohnt wurde. Von einem Genfer Notar hatte er den Hinweis erhalten, hier stünde ein Haus zum Verkauf. Eine alte Frau, bei der er etwas zu essen fand, bat ihn schüchtern, er solle das Haus kaufen und dableiben. Das überzeugte ihn endgültig von seinem Vorhaben. Es war der 20. August 1940, als er dieser Frau begegnete. Daran erinnerte sich Roger genau.
Roger kaufte mit geliehenem Geld das Haus und begann sogleich, darin eine winzige Kapelle einzurichten und das angrenzende Landstück eigenhändig zu bebauen. Fast jede Stunde kamen Flüchtlinge – darunter waren auch entflohene französische Kriegsgefangene – ins Dorf, die an seine Tür klopften, und manchmal hielt sich ein ganzes Dutzend von ihnen im Haus auf. Sie wurden von Roger mit Brennnesselsuppe verköstigt, und die karge Mahlzeit verfeinerte er mit reichlich vorhandenen Schnecken. Es verwundert nicht, dass die Behörden misstrauisch wurden und häufig eine Zivilstreife vorbeikam, die ihn verhörte. Roger erlebte bange Momente in dieser Zeit, die er noch ganz allein in Taizé verbrachte. In seinem Tagebuch schrieb er: «Ich kann einen Sommerabend im Jahr 1942 nicht vergessen … Ich wusste mich in Gefahr wegen der Flüchtlinge, die ich im Haus beherbergte. Unter ihnen waren Juden. Schwer hing die Drohung einer Verhaftung und Verschleppung über mir … An jenem Abend, als die Angst mein Herz zusammenschnürte, war in mir ein vertrauensvolles Gebet, das ich zu Gott sprach: Selbst wenn man mir das Leben nimmt, weiss ich, dass du, lebendiger Gott, weiterführen wirst, was hier begonnen hat, die Grundlegung einer Communauté.»
Im Herbst 1942 – inzwischen war die deutsche Wehrmacht auch in diesen Teil Frankreichs einmarschiert – besetzte die Gestapo das Haus und nahm alle Bewohner mit. Irgendjemand aus dem Dorf hatte Roger denunziert, als er gerade einem Flüchtling über die Schweizer Grenze half. Roger konnte deshalb nicht zurückkommen, sondern musste in der Schweiz bleiben. Mit drei Freunden mietete er in Genf eine Wohnung, wo sie den schon in Lausanne begonnenen Lebensstil der «Communauté» weiterführten, so wie Roger ihn später in der «Regel» festhielt: «Lass in deinem Tag Arbeit und Ruhe vom Wort Gottes ihr Leben empfangen; wahre in allem die innere Stille, um in Christus zu bleiben; lass dich durchdringen vom Geist der Seligpreisungen: Freude, Einfachheit, Barmherzigkeit.» Zu dieser ersten «Brüdergemeinschaft» gehörten der Theologiestudent Max Thurian, der Agronomiestudent Pierre Souvairan und Daniel de Montmollin, der vom Pfarrberuf auf Töpfer umsattelte und später mit den von ihm bekannt gewordenen Keramikprodukten zum Lebensunterhalt der Gemeinschaft beitrug.
Nachdem 1944 Charles de Gaulle als Befreier in Paris eingezogen war, konnte Roger zusammen mit seinen drei Freunden nach Taizé zurückkehren. Die vier Brüder, wie sie sich inzwischen nannten, kümmerten sich zum Ärger mancher Dorfbewohner um deutsche Kriegsgefangene, die in zwei Lagern in der Nähe untergebracht waren. Sie versorgten sie mit Nahrung und luden sie in ihr Haus ein. Dass verbitterte Frauen, die ihre Männer in deutschen KZs verloren hatten, in ein Lager eindrangen und einen jungen katholischen Priester zu Tode misshandelten, konnten jedoch auch die vier Brüder nicht verhindern. «Es waren die Jahre, in denen der Hass nichts als Hass zeugte», sagte Frère Roger 1974 in Frankfurt, als er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm. Der schreckliche Krieg hinterliess nicht zuletzt viele Waisenkinder und von ihren Eltern im Stich gelassene Kinder. Spendengelder aus der eigenen Familie und von Schweizer Freunden machten es möglich, dass ein Haus gemietet werden konnte, um zwanzig verlassene Kinder in zwei Wohngruppen aufzunehmen und zu versorgen. Dabei half Rogers jüngste, noch unverheiratete Schwester Geneviève, eine hochbegabte Pianistin; sie war eine der «Mütter» (mamam) dieser Waisenkinder. Auch für deren spätere Ausbildung kamen die Brüder auf. Es war ein hartes Leben in der unmittelbaren Nachkriegszeit, zumal es Zeit brauchte, bis die Landwirtschaft etwas abwarf. Deren wirtschaftliche Erträge waren sehr spärlich, mussten doch die Felder erst bestellt werden. Das war der Anfang der inzwischen bekannten Communauté von Taizé.
Aus einem losen Freundschaftskreis entstand, ohne feste Absicht, der erste protestantische Männerorden, der – auch dies wiederum ohne Absicht – als Ergebnis eines gemeinsamen Lernprozesses die drei traditionellen Mönchsgelübde übernahm: Gütergemeinschaft (Armut), Anerkennung einer Autorität (Gehorsam), ungeteiltes Leben (Ehelosigkeit). Um ihrer Berufung treu bleiben zu können, nämlich Christus ganz verfügbar zu sein, verlange dies – so ihre Grundüberzeugung – eine vorbehaltlose Hingabe. Am Osterfest 1949 verpflichteten sich sieben Brüder zu lebenslangem Engagement; dieses Datum gilt als die Geburtsstunde der Communauté von Taizé, die sich als Familie, als «Gleichnis der Gemeinschaft» versteht, nach der Frère Roger schon lange leidenschaftlich suchte: «ein Gleichnis der Gemeinschaft, ein einfacher Widerschein jener einzigartigen Gemeinschaft, die der Leib Christi, seine Kirche ist, und dadurch auch ein Keim in der Menschheitsfamilie». – «Gleichnis der Gemeinschaft» zu sein, erfordert die Versöhnung der Christen untereinander und zugleich das Engagement für die Überwindung menschlicher Konflikte. Drei Jahre später entstand die von Roger verfasste «Regel von Taizé», die immer wieder überarbeitet und vereinfacht wurde. Seit 1969 stiessen katholische Brüder zur Gemeinschaft hinzu, später entschieden sich auch Männer aus der anglikanischen und einer aus der orthodoxen Kirche für das Leben in der Communauté, die zusammen einen «ökumenischen Männerorden» bilden. Inzwischen gehören ca. 100 Brüder aus 30 Nationen zur Communauté von Taizé, die in sozialen Brennpunkten unter den Armen weltweit (Brasilien, Bangladesch, Senegal u. a.) ein einfaches Leben nach der «Regel von Taizé» führen. Und weil Regel nach Gesetz und Behördensprache klang, erschien die Regel in den 1970er-Jahren unter dem Titel «Die Quellen von Taizé». Diese redigierte Frère Roger 2001 ein letztes Mal und gab den «Quellen von Taizé» den Untertitel «Gott will, dass wir glücklich sind». Es war der 16. August 2005, als eine geisteskranke Rumänin während des täglichen Abendgebets in der Versöhnungskirche von Taizé, inmitten von zweieinhalbtausend vorwiegend Jugendlichen, mit einem Messer mehrfach auf Frère Roger einstach. Ein roter Fleck breitete sich auf seinem weissen Gewand aus. Wenige Augenblicke später verstarb der Gründer der Communauté von Taizé. Auf dem Friedhof der alten Dorfkirche wurde er neben anderen Brüdern beigesetzt.
III. Das Vermächtnis von Taizé
«Wenn es stimmt, dass im letzten halben Jahrhundert mehr an den Gemeinsamkeiten zwischen den Konfessionen gewachsen ist als in über vier Jahrhunderten zuvor seit der Reformation, dann fragen sich heute immer mehr Menschen, warum das nicht in sichtbare Ergebnisse umgesetzt wird. Sie verstehen vielfach die Kirchenleitungen nicht mehr … In Taizé wird Ökumene gelebt. Und es wird für sie gebetet. [Die noch vorhandenen Unterschiede werden nicht nur diskutiert.] Das erfüllt die Sehnsucht vieler Menschen und ist ein Zeichen der Hoffnung. Die Gemeinschaft der Brüder von Taizé ist wie ein reales Symbol dafür, dass Versöhnung über alle Gräben hinweg möglich ist … (und zugleich) macht (es) den Skandal, das Ärgernis der Spaltung offenbar. In Taizé brennt (jedenfalls) die Glut des Willens zur Einheit», schreibt Michael Albus. Das wird nicht zuletzt durch die Tatsache erhärtet, dass sich jedes Jahr – und dies über Jahrzehnte hinweg bis heute – Tausende von Menschen, vor allem Jugendliche, nach Taizé aufmachen, um mit den Brüdern zusammen unter bescheidenen Bedingungen nach dem Sinn des Lebens und des Glaubens zu fragen, gemeinsam zu schweigen und betend zu singen. Wie lässt sich diese von Frère Roger kaum vorhergesehene oder von ihm gar beabsichtigte Wirkung seiner «ökumenischen Inspiration» erklären und verstehen?
Schon seit langem bewegte Frère Roger und seine Brüder die Frage, warum so viele Jugendliche weltweit immer weniger oder gar nicht mehr an kirchlichen Gottesdiensten teilnehmen. Darauf seine aus dem inneren Schweigen (silence intérieur) kommende Antwort: «Würde Christus in der Gemeinschaft seines Leibes, seiner Kirche, nicht so allein gelassen, gäbe es mehr Jugendliche in den Kirchen. Dann hätte sich unsere Communauté nicht bemüht, jungen Menschen Raum zu geben, um beten und miteinander sprechen zu können, und jemanden zu finden, der ihnen zuhört. Wir möchten uns den Jugendlichen öffnen, nicht nur in Taizé, sondern auch bei Treffen in den verschiedenen Ländern Europas und auf den anderen Kontinenten, auch dort, wo einige von uns Brüdern das Leben der Armen teilen … Wir sehen, dass die Schönheit eines gesungenen Gebetes, bei dem gemeinsam gesungen wird, mit seiner Schönheit in Jugendlichen die Sehnsucht nach Gott weckt und sie in die Tiefe eines kontemplativen Wartens führt.» Damit wird jenes Geheimnis von Taizé angesprochen, das offenbar den Brüdern den Menschen zu vermitteln gelingt, nämlich die Erfahrung von Vertrauen. «Es ist kein billiges Vertrauen. Und es ist nicht nur ein Vertrauen zu sich selbst oder ein Vertrauen von Menschen auf Menschen. Es ist ein tiefes, durch keine noch so zerstörerische Erfahrung des Lebens zu besiegendes Vertrauen, ein Grundvertrauen … in einen alles tragenden Grund. Es ist das Vertrauen in Gott selber.» – «Ein solches Vertrauen nährt keine Illusionen; es drängt uns vielmehr, aktiv zu sein und uns zu bemühen, den Nächsten zu verstehen und zu lieben», schreibt Frère Roger.
Literaturliste
- Frère Roger, Die Grundlagen der Communauté von Taizé. Gesammelte Schriften von Frère Roger, Band 1, Freiburg 2011.
- Frère Roger, Gott kann nur lieben. Erfahrungen und Begegnungen, Freiburg 2022.
- Michael Albus, Taizé. Die Einfachheit des Herzens. Das Vermächtnis von Frère Roger, Gütersloh 2006.
- Christian Feldmann, Frère Roger, Taizé. Gelebtes Vertrauen, Freiburg 2005.
- Sabine Laplane, Frère Roger. Die Biografie, Freiburg 2018.
- Max Schoch, Roger Schutz und die Bruderschaft von Taizé, in: Gegen die Gottvergessenheit. Schweizer Theologen im 19. und 20. Jahrhundert, Hgg. St. Leimgruber – M. Schoch, Freiburg 1990, 640–651.
- Kathryn Spink, Frère Roger. Gründer von Taizé. Leben für die Versöhnung, Freiburg 2007.