Der Friedhof
Am Ende einer Moräne
über dem Schutt:
Kultur der Toten.
Die Gräber gleichen sich alle,
schmiedeisernes Kreuz und Blumen,
Name und Lebenszeit.
Weithin sichtbar die Buche,
mächtig und schützend,
Stürmen getrotzt seit Jahren.
Die Toten ruhen und doch
geht über sie
die wandelnde Zeit.
Im Frühling das Blühen,
im Sommer das Glühen,
die fallenden Blätter im Herbst.
Selbst in der Winterstarre
mit der offenen Wunde:
das Kreuz.
fridericus carbonarius
Kommentar zum Gedicht «Der Friedhof» - von Fritz Kollbrunner SMB
Immer wieder sind Menschen von unserem Friedhof beeindruckt. Verschiedene Momente spielen dabei mit: die exponierte Lage, die riesige Blutbuche, die Sicht auf die beiden Seen und vor allem die inzwischen angewachsene grosse Gräberanlage. Das Gedicht versucht, auf kurze und einigermassen lyrische Weise das Phänomen, das einem hier begegnet, auszudrücken – mit sechs Terzinen, jedoch ohne Reime und in freiem Rhythmus. Es geht nicht auf Einzelheiten ein, es bietet keinen Katalog des Vorhandenen. Ausgelassen sind die vielen Steinplatten mit den Namen jener, die anderswo beerdigt wurden.
Die Ursprünge dieses Ortes gehen weit zurück, bis in das Vorgeschichtliche. Denn der Friedhof ruht auf dem Schutt einer Moräne, die von weit her gekommen ist: aus den Bergen. Auf diesem vorkulturellen Untergrund steht nun die «Kultur der Toten» – nicht die «Kultur des Todes», denn die hier Begrabenen glaubten, so dürfen wir annehmen, an das ewige Leben nach dem Tod.
Die Gräber und die grosse Blutbuche werden kurz skizziert. Auffallend ist die Einheitlichkeit: Auf jedem Grab stehen ein schmiedeisernes Kreuz, versehen mit den Namen und der Lebenszeit der Bestatteten, und Blumen. Das überall Gleiche zeigt an, dass wir im Tod nach aussen alle gleich sind; es zeigt sich darin auch etwas, das alle verbindet.
Die grosse und vor allem breite Blutbuche wird stets bewundert. Sie ist ein Ausdruck von Kraft und Behütung. Wird sie die nun mit der Klimaveränderung immer mehr aufkommenden Stürme bestehen? Wenn sie, wie die hier Begrabenen, auch sterben würde – das wäre traurig.
Friedhof der Missionsgesellschaft Bethlehem in Immensee. Foto: Fritz Weber SMB
Die vierte Terzine wird etwas metaphysisch: Die wandelnde Zeit – ein grosses Geheimnis, bei den Griechen sogar eine Gottheit (Chronos) – bringt etwas Leben in das Land der Toten. Die Zeit waltet auch hier, sie geht durch den Friedhof und wirkt verwandelnd in den Jahreszeiten.
Die vierte Jahreszeit kommt in der letzten Terzine zur Sprache, wird aber ausgeweitet. Der Ausdruck «Winterstarre» kann mit «Todesstarre» assoziiert werden, und das ist im Gedicht auch beabsichtigt. Der Tod unterbricht den Ablauf der Natur. Geht es denn weiter?
Eine Antwort gibt das Kreuz, von Anton Egloff geschaffen, im Juni 1966, aufgestellt anstelle der früheren grossen Herz-Jesu-Statue. Diese Darstellung ist biblisch, sie zeigt kein Herz, sondern die Wunde des gekreuzigten Christus: «Einer der Soldaten stiess mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floss Blut und Wasser heraus» (Johannesevangelium 19,34). Kirchenväter erblickten hier den Ursprung der Kirche (Taufe und Eucharistie). Die auf diesem Friedhof Begrabenen gehören zwar nicht mehr zur irdischen Kirche, aber – so hoffen wir – zur Communio Sanctorum.
Friedhof der Missionsgesellschaft Bethlehem in Immensee. Foto: Fritz Weber SMB