«Sturm auf dem See» – «… durchnässt bis auf die Herzhaut»

Autor: Giancarlo Collet

Die folgende Meditation zur Erzählung vom «Sturm auf dem See» möchte ich mit der «Bitte» beginnen, dem Gedicht, das zu den frühesten Veröffentlichungen von Hilde Domin (1909–2006) gehört und das erstmals 1955 erschien:

Bitte

Wir werden eingetaucht
und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen,
wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut.
Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht,
der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten,
der Wunsch, verschont zu bleiben,
taugt nicht.

Es taugt die Bitte,
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe.
Dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei,
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden.

Und dass wir aus der Flut,
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.

(Hilde Domin)

Der gut 200 Meter unter dem Spiegel des Mittelmeeres liegende See Gennesaret, auf dem sich die biblische Geschichte vom «Sturm auf dem See» abspielt, ist bis heute dafür bekannt, dass sich unberechenbare Fallwinde zu einem tosenden Sturm entwickeln können und den zuvor ruhigen See in bedrohliche Fluten verwandeln. Durch die engen Schluchten im Nordosten des Sees sammeln sich die Winde wie in einem Trichter und peitschen die Wellen hoch. Doch ebenso rasch kann der Spuk verschwinden, und schon wieder liegt der See dann ruhig und friedlich da. Die abendliche Zeit der aufkommenden Winde muss deshalb schnell genutzt werden, um sicher ans andere Ufer gelangen zu können. Dies bildet den geographisch-wetterkundlichen Hintergrund der Erzählung, wie sie der Evangelist Markus festgehalten hat:

35 Am Abend dieses Tages sagte Jesus zu seinen Jüngern: «Kommt, wir wollen ans andere Ufer fahren!» 36 Sie schickten die Menschen weg und ruderten mit dem Boot, in dem Jesus sass, auf den See hinaus. Einige andere Boote folgten ihnen. 37 Da brach ein gewaltiger Sturm los. Hohe Wellen schlugen ins Boot, es lief voll Wasser und drohte zu sinken. 38 Jesus aber schlief hinten im Boot auf einem Kissen. Da rüttelten ihn die Jünger wach und schrien voll Angst: «Meister, kümmert es dich nicht, dass wir untergehen?» 39 Jesus stand auf, wies den Wind in seine Schranken und rief in das Toben des Sees: «Schweig! Sei still!» Da legte sich der Sturm, und es wurde ganz still. 40 «Warum habt ihr solche Angst?», fragte Jesus seine Jünger. «Habt ihr immer noch kein Vertrauen zu mir?» 41 Die Jünger waren fassungslos und sagten zueinander: «Was ist das nur für ein Mensch, dass ihm selbst Wind und Wellen gehorchen?» (Mk 4, 35-41)

Sturm an der Küste Englands. Foto: Dave H, Pexels

In dieser Geschichte vom «Sturm auf dem See» geht es um mehr als einen wundersamen Bericht über ein vergangenes Widerfahrnis, das mit einem offe­nen, hoffentlich glücklichen Aus­gang für die Bootsinsassen endet. Die Ge­schichte wird nämlich so erzählt, dass sie aus der Sicht von Christinnen und Christen allgemein menschliche Erfahrungen wiedergibt, die sich darin wiederer­kennen und deshalb ihnen von Generation zu Generation als Evangelium weiter­zugeben notwendig und hilfreich erschienen. In diesem einen Boot sitzen – das macht der Text deutlich – nicht irgendwelche Menschen (und andere Boote be­gleiteten ihn), sondern Jünger Jesu, erfahrene Fischer also, die sowohl den See Gennesaret von ihrer Arbeit her als auch die lokalen Wetterverhältnisse und de­ren überraschende Kapriolen kennen. Mit den Jüngern zusammen ist auch Je­sus, der sich ihrer Steuerkunst anvertraut, sodass er vom schlagartigen Wetter­umschwung zunächst nichts mitbekommt; vielmehr schläft er ganz fest auf einem Kissen im Heck. Die Jünger müssen ihn deshalb wecken und Klartext reden: «Meister, kümmert es dich nicht, dass wir untergehen?» Oder grob gesagt: Wir saufen ab, und du pennst! Erst daraufhin steht Jesus auf und schafft mit starker Stimme Ruhe und grosse Stille. Durch sein wortgewaltiges, rettendes Eingreifen zeigt Jesus aber zugleich, dass der Hilferuf seiner Jünger nicht unberechtigt war.

Ein krasser Gegensatz zwischen einer Welt, in der die Jünger wegen des volllau­fenden Bootes in Panik geraten, Todesängste ausstehen, in ihrer Verzweiflung um Hilfe schreien, und einem schlafenden Jesus, der die sich anbahnende Kata­strophe nicht mitbekommt und es daher «seelenruhig» den anderen überlässt, mit ihr klarzukommen.

Wie alle Menschen bleiben auch Christinnen und Christen in ihrem Leben von Stürmen unterschiedlicher Stärke nicht verschont, auch wenn sie es sich anders, vor allem überraschungsärmer, jedenfalls ruhiger, friedlicher wünschten. Doch gibt es hier keine Ausnahmeregelung, die wir erwarten oder auf die wir uns gar berufen könnten. Diese von aussen und innen heranstürmenden Einschläge ins Alltagsleben tragen verschiedene Namen: Überschwemmungen und Dürre, Flucht und Vertreibung, Terror und Krieg, Diagnose einer unheilbaren Krankheit, Verlust eines nahestehenden Menschen, tiefe Depression, zerstörte Lebens­pläne, Arbeitslosigkeit, zerbrochene Beziehung, Verlassenheit und Einsamkeit … Dies alles kann uns alle treffen, und niemandem dürfte in seinem Leben eine Fahrt auf stillen Gewässern über den See ohne überraschende Gegenwinde gelingen.

Nur zu verständlich, wenn daher auch die Jünger, die bisher ihr ganzes Vertrauen auf Jesus setzten, in ihrer Not schreien: «Meister, kümmert es dich nicht, dass wir untergehen?» Wie oft verhallt(e) dieser Hilfeschrei gerade auch von denen, die ihr Vertrauen auf den Glauben an Jesus setz(t)en im Gefühl, in ihren Lebens­nöten allein gelassen und verlassen (worden) zu sein? Nach dem verzweifelten Hilferuf – so berichtet die Geschichte – verschläft Jesus jedoch die entschei­dende Stunde der Gefahr nicht, sondern sein Wort besiegt schliesslich die Angst der Jünger und bringt eine grosse Windstille. Wie die Fahrt dann weiterging, darüber sagt die Erzählung nichts, ausser dass sie auf die andere Seite des Sees kamen (Mk 5,1).

Damit ist die Geschichte vom «Sturm auf dem See» allerdings noch nicht zu Ende, sondern sie weckt erneut Aufmerksamkeit. Denn statt dass sich Jesus ge­genüber seinen Jüngern irgendwie anerkennend zeigen würde, die ihn immerhin in der auch für ihn äusserst prekären Situation einer möglichen Kenterung des Bootes aufweckten, macht er ihnen mit einer Gegenfrage einen Vorwurf: «Warum habt ihr solche Angst?» – «Habt ihr immer noch kein Vertrauen zu mirWas aber soll nun dieser von Jesus erhobene Vorwurf? Eine Rückfrage drängt sich unmittelbar auf: Was hätten denn die Jünger, die bisher ihr ganzes Vertrauen auf ihren Meister setzten, tun sollen, wenn es um Leben und Tod geht? Auf die ei­genen Kräfte sturmerprobter Fischer setzen, die ohnehin völlig erschöpft am Ende waren? Ihre Ängste nicht zulassen oder sie gar verdrängen? Auch unter­drückte Ängste verschwinden nicht von selbst, sie tauchen wieder auf, vor allem dann, wenn im Leben tödlicher Untergang droht.

Sturm über dem Lago Maggiore. Foto: Peter Leumann

Könnte es sein, dass Jesus seinen Jüngern nicht deshalb einen Vorwurf macht, weil sie Todesangst hatten – diese kannte er selbst auch –, sondern vielmehr darum, weil sie Jesus, der mit ihnen im selben Boot sass, seinen tiefen Schlaf – Gottes Schweigen – als unbekümmerte Gleichgültigkeit ihnen gegenüber, ja noch mehr: als ein sie im Stichelassen in ihrer grössten Lebensnot wahrnahmen und auch so zu deuten sich genötigt sahen? Mussten die Jünger Jesu nicht auf solch einen Gedanken kommen und zu zweifeln beginnen, ob die Überfahrt auch glückt? Hatten sie nicht allen Grund dazu? Es ist – das will uns die Geschichte sagen – der tiefe Glaube, das unbedingte Vertrauen in die Macht Gottes, mit dem Jesus den Sturm bezwingen lässt und damit rettend in das Geschehen eingreift.

Wer aus der alltäglichen, überraschungsarmen Gewohnheit zu glauben, aus sei­nem «Schönwetterglauben», plötzlich herausgerissen wird, für den wird es in solch einer Situation, wie sie die Erzählung vom «Sturm auf dem See» schildert, besonders schwer, an seinem bisherigen Glauben unbekümmert weiter festzu­halten. Fragen und Zweifel drängen sich notgedrungen auf und enden im lauten oder auch stummen Schrei nach Hilfe und Rettung aus grosser menschlicher Not. Kurz gesagt: Gerät das Lebensboot in Sturm, wird dies zum Testfall des Glaubens. So provozierte gerade der Schlaf Jesu bei seinen Jüngern eine tiefe Verzweiflung, die ihren Glauben ins Wanken brachte. Und dennoch: Sie hörten in ihren Todesängsten nicht auf, ihrem Meister zu vertrauen, als sie ihn an­schrien: «Meister, kümmert es dich nicht, dass wir untergehen?»

Die Erzählung vom «Sturm auf dem See» wirbt um einen Glauben, der selbst im drohenden Untergang und Tod an der Rettung durch Gott nicht zweifelt oder gar daran verzweifelt, sondern mit letzter Kraft an ihr festzuhalten wagt. In der Spra­che von Paulus: «gegen alle Hoffnung … voll Hoffnung glauben» (Röm 4,18). Im Vertrauen auf Jesus, der selbst aus dem Tode errettet wurde, können auch wir, die wir in unserem angstgeplagten und -gejagten Leben dem Nazarener nachzu­folgen suchen, auf sein Wort hin es glaubend wagen, auf «offene See» zu fahren. Ein solcher Glaube immunisiert nicht gegen Lebensstürme, denen wir oft hilflos ausgesetzt sind, und er bedeutet genauso wenig, keine Angst mehr zu haben. Doch gibt er die übermächtigen Lähmungen der Angst, die uns befallen können, auf und wagt es, mit Jesus im Boot «ans andere Ufer zu fahren». Und ebenso wenig nimmt er uns in unserem Lebensboot das Ruder aus der Hand, vielmehr traut er uns zu, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Der Meister ist an Bord und fährt mit; er vermag sogar schlafend im Sturm Ruhe ins Boot zu bringen, die seine Jünger schliesslich erstaunt fragen lässt: «Was ist das nur für ein Mensch, dass ihm selbst Wind und Wellen gehorchen?»