Weihnachtsbrief 2004 aus meiner Pfarrei Barlig – Philippinen
Autor: Martin Jäggi
Etwas vor 18 Uhr zog ich an jenem Heiligabend, es war ein Freitag, zu Fuss nach Lias, einem Aussenzentrum auf den Philippinen, in der Hoffnung, dass mich unterwegs der öffentliche Transport, ein Jeepney-Bus, einholen und mitnehmen würde. Dieser traf nach anderthalb Stunden Fussmarsch ein. Allerdings war der Jeepney so voll, dass nur ein Stehplatz auf dem langen Trittbrett übrig war, rechts und links von mir standen schon junge Männer. Ich konnte mich an der Stange des Gepäckrostes über dem Dach festhalten. Der Fahrtwind blies mir Duftschwaden vom Hühnerdreck in die Nase. Mich bedauerten die Vögel, die gefangen dem sicheren Tod entgegenflogen.
In Lias angekommen, bin ich bei der Katechetin Christina Cofin zum Nachtessen eingeladen: Reis und gebratene Hühnerbeine. Auf 19.30 Uhr ist das Weihnachtsprogramm angesagt. Aber da sitzen wir noch immer am Tisch.
Niemand hat es eilig. Kein Wunder, dass das Programm erst etwa zwei Stunden später anfängt! Zu Lias passt, dass dieses Abendprogramm ohne Rücksicht auf Religionszugehörigkeit in der katholischen Kapelle stattfindet. Es ist die Weihnacht der Dorfgemeinschaft und nicht einer religiösen Denomination. Und diese ist so organisiert, dass ausnahmslos alle mindestens ein Geschenk erhalten, und seien es bloss schön eingepackte Zündhölzer oder soeben geerntete – schrecklich saure! – Orangen. Die Gabenverteilung ist präzis eine Stunde nach Mitternacht zu Ende.
Das Abendprogramm in Lias findet ohne Rücksicht auf Religionszugehörigkeit in der katholischen Kapelle statt. Viele Menschen haben sich versammelt. Foto: Martin Jäggi SMB
Die Erwachsenen bleiben für die Mitternachtsmesse. Um 2 Uhr gehen alle heim, ausser die Jugendlichen, die eine philippinische Sternsinger-Tradition aufrechterhalten. Ich bekomme noch süssen, klebrigen Malagkit, eine Reissorte, und Kaffee. Genau um 2.30 Uhr breche ich auf und wandere weiter. Mutterseelenallein durch den Regenwald über den Pass, von 1100 Meter auf 1750 Meter hinauf und dann hinab bis auf 900 Meter, nach Kadaclan. Die Strasse war zuvor von 21 Erdrutschen beeinträchtigt gewesen und ist erst seit zehn Tagen wieder offen. Ein Sternenhimmel sorgt für ideale, ziemlich kalte Luft. Zweimal begegne ich einem Jäger-Duo, das auf eine Bereicherung des Speisezettels hofft. Wenn die beiden Glück haben, kommt ihnen ein Namorak-Wildschwein oder eine Oksa, eine Art Reh, vor den Lauf.
5.20 Uhr war es, als ich in der Kapelle stand und in der Sakristei neben der Pritsche. Dort konnte ich, in Wolldecken eingehüllt, zwei Stunden schlafen. Um 8.30 Uhr hätte die Messe anfangen sollen, aber die Leute kamen zur «normalen» Zeit, etwa um 10 Uhr. Um 11.30 Uhr machte ich mich wieder auf den Rückweg zum Hauptort Barlig. 26 Kilometer sind es bis dorthin – die Höhendifferenz nicht mitgerechnet. Dort kam ich beim Eindunkeln an, kurz vor 18 Uhr. Die 16-Uhr-Messe verpasste ich natürlich, aber die Gläubigen wussten sich schon zu helfen.
Mutterseelenallein wandert Martin Jäggi SMB an Weihnachten durch den Regenwald über den Pass, von 1100 Meter auf 1750 Meter hinauf und dann hinab bis auf 900 Meter, nach Kadaclan. Foto: Sternennacht über dem Regenwald in den Philippinen, iStock.
Nach einem göttlichen Schlaf und einem kräftigen Frühstück nahm ich nochmals einen – diesmal geplanten! – Marsch nach Lingoy unter die Füsse. Denn der erste Weihnachtsmarsch war ungeplant gewesen: Bei meinem Toyota Hilux hatte die Steuerung wenige Tage vor Weihnachten gestreikt.
Auf dem Rückweg von Lingoy machte ich, wie üblich, einen Umweg über die Heisswasserquelle Tupniw.
Mit der Sonntagabend-Messe in Barlig, inklusive 15 getaufter Kindern, endete mein Weihnachtswochenende 2004. Es war unerwartet zu einem Wanderwochenende geworden. Ob der öfters durch Taifun verschütteten Strassen hatte ich zuvor schon hin und wieder im Dezember marschieren müssen. Kein Wunder, hat der 12-Stunden-Marsch keine Spur von Muskelkater hinterlassen.
Auf den Wanderungen habe ich ausgiebig über Sinn und Unsinn meiner Missionarstätigkeit nachdenken können. Wenn ich bedenke, dass der allgütige Gott sich für den Stall von Bethlehem entschieden hat, meine ich in etwa, dieselben Typen anzutreffen, wie die ersten Besucher des Neugeborenen es waren. Manche schätzen es, dass ihr Pfarrer sie besucht und ihnen in ihrer Situation ein Ansehen gibt. Ich selbst schätze, dass ich gesund bin und an solch einsamen Wanderungen meine Freude habe. Ich entsinne mich des Beresina-Lieds aus der Pfadizeit: «Unser Leben gleicht der Reise eines Wanderers in der Nacht.»
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Jedes Kind trägt mit seinem Buchstaben etwas Besinnliches und Lustiges bei zum «Merry Christmas». Foto: Martin Jäggi
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Arme hoch zum traditionellen Tanz! Frauen aus der Pfarrei Lias tanzen an Weihnachten. Foto: Martin Jäggi SMB
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Es ist die Weihnacht der Dorfgemeinschaft von Lias. Und diese ist so organisiert, dass ausnahmslos alle mindestens ein Geschenk erhalten, und seien es bloss schön eingepackte Zündhölzer oder soeben geerntete – schrecklich saure! – Orangen. Die Gabenverteilung ist präzis eine Stunde nach Mitternacht zu Ende. Foto: Martin Jäggi SMB